England gilt als klassisches Land der Eisenbahnen und der Dampflokomotive. Hier dampfte auch zum ersten Mal eine Lokomotive über einen Schienenstrang.
Der historische Tag war der 13. Februar 1804, der Ort die Penny-Darren-Eisenhütte bei Merthyr Tydfil in Wales, etwas nördlich von Cardiff gelegen. Richard Trevithick hatte die Maschine für seinen Freund, den Hüttenbesitzer Samuel Homfray, konstruiert. Die Lokomotive, von Trevithick allerdings noch als "tram waggon" bezeichnet, schleppte anstandslos auf fünf Wagen zehn Tonnen Fracht und außerdem noch 70 Passagiere, vermutlich Hüttenarbeiter, in vier Stunden und fünf Minuten auf einer Strecke von neun Meilen, also fast 15 Kilometern. Das Experiment war gelungen. Trevithick sah sich selbst allerdings nie als Erfinder der Lokomotive: Nach ein paar Fahrten wurde das Fahrwerk entfernt und die Maschine ihrem ursprünglichen Zweck als Antrieb für ein Walzwerk übergeben.
Die Zeit war noch nicht reif, und so dauerte es ein paar Jahre, genauer bis 1811, bis wieder (abgesehen von einigen wenig erfolgreichen Versuchen Trevithicks, der mittlerweile nach Peru gegangen war und dort Dampfpumpen für die Entwässerung von Silberminen baute) eine Lokomotive aufs Gleis gestellt wurde.
John Blenkinsop, der aus verschiedenen Gründen nicht an die Wirksamkeit des nötigen Reibungsgewichtes glaubte, konstruierte eine Lokomotive, die sich mit Hilfe von Zahnrädern und neben dem Gleis fixierten Zahnstangen fortbewegte. Die erste dieser Maschinen absolvierte am 24. Januar 1812 ihre Probefahrt und mit ihr wurde am 12. August des gleichen Jahres die Kohlenbahn der Middleton-Zeche bei Leeds eröffnet. Es folgten drei weitere Lokomotiven gleichen Typs, die bis 1839 in regelmäßigem Betrieb standen. Die Middleton-Bahn war jedenfalls die erste Eisenbahn der Welt mit planmäßigem Dampfbetrieb.
Das Einsatzdatum der nächsten in England gebauten Lokomotive, der "Puffing Billy" von Hedley, ist nicht genau überliefert, aber es kann angenommen werden, daß sie im Mai 1813 in Betrieb genommen wurde. Sie ist übrigens die älteste erhalten gebliebene Lokomotive und steht im South Kensington Museum in London, ein heute noch viel bestauntes Relikt aus der Prähistorie der Eisenbahn. Sie war bis 1862 auf der Wylam-Kohlezeche in Betrieb; im August 1813 wurde eine zweite, ganz ähnliche Maschine eingesetzt, die "Wylam-Dilly". Kurz darauf nahm man auf der Zeche die dritte Lokomotive in Betrieb, die "Lady-Mary" - diese Maschinen kamen jedenfalls wesentlich billiger als die bisher als Zugkraft für die Kohlenwagen eingesetzten Pferde mitsamt dem Personal, das für die Betreuung der Pferde benötigt wurde.
Die Erbauer der Lokomotiven in Middleton und Wylam waren damit zufrieden, daß die Lokomotiven einigermaßen liefen und versuchten keinerlei Weiterentwicklung.
Nun aber betrat ein Mann die Szene, der gemeinhin als der "Vater der Eisenbahn" betrachtet wird, wenngleich er selbst keine Erfindung im eigentlichen Sinn machte, sondern in erster Linie bestrebt war, Verbesserungen zu installieren und aus den "locomotive engines" (den selbstfahrenden Maschinen) ein wirklich brauchbares Verkehrsmittel zu entwickeln. Dieser Mann war George Stephenson. Er war, obwohl Autodidakt, zum technischen Aufseher der Killingworth-Zeche aufgestiegen, und die erste von ihm konstruierte Lokomotive hieß "Blücher" - sie sollte zwar ursprünglich "Mylord" getauft werden, aber der preußische "Marschall Vorwärts", der Wellington die Schlacht bei Waterloo gegen Napoleon gewinnen half, wurde auch in England ein populärer Mann.
George Stephenson baute noch mehrere Lokomotiven, ehe er sich selbständig machte und am 23. Juni 1823 zusammen mit seinem Sohn Robert in der Forth Street in Newcastle-upon-Tyne die erste Lokomotivfabrik der Welt gründete.
Inzwischen hatte sich die Stockton & Darlington-Gesellschaft etabliert und 1824 beschloß man, zwei Lokomotiven bei der neuen Fabrik von Robert Stephenson & Co. zu bestellen. Am 27. September 1825 wurde die Bahn mit einer dieser beiden Lokomotiven eröffnet, es war die glücklicherweise erhalten gebliebene "Locomotion".
Das genannte Datum eröffnete eigentlich das Eisenbahnzeitalter, denn die Stockton & Darlington Railway war die erste öffentliche Eisenbahn mit Dampfbetrieb. Noch immer hafteten den Lokomotiven allerlei Kinderkrankheiten an und sie waren weit davon entfernt, wirklich betriebssicher zu sein.
Die erste funktionstüchtige Maschine stellten die Stephensons dann 1829 beim berühmten Lokomotivrennen von Rainhill vor, das anläßlich des Baues der Liverpool & Manchester Railway veranstaltet wurde. Es hatte den Zweck, unter den zur Konkurrenz angetretenen Maschinen Stephensons "Rocket", Hackworths "Sans Pareil", der "Novelty" von Ericsson und Braithwaite und Burstalls "Perseverance" - die beste und geeignetste für den künftigen Betrieb auf der Linie, die den Transport zwischen den Webereien von Manchester und dem Hafen von Liverpool rationell gestalten sollte, auszusuchen. Die "Rocket" blieb Siegerin, weil sie die einzige war, die den Wettbewerbsbedingungen auch tatsächlich entsprochen hatte, obwohl sich später in der rauhen Praxis des Eisenbahnalltags noch manche Mängel heraustellten, die Anlaß für mehrmalige Umbauten waren.
Mit der Eröffnung der Liverpool & Manchester Railway am 1. September 1830 hatte sich die Eisenbahn endgültig durchgesetzt. Nicht nur in England, auch auf dem Kontinent und in Amerika begann man den Bau von Bahnlinien zu erwägen und in Angriff zu nehmen.
Nun war es also möglich, weit höhere Geschwindigkeiten als früher auf dem Pferderücken oder mit der Postkutsche über viel größere Entfernungen einzuhalten. Die Städte und Dörfer rückten gewissermaßen zusammen; Menschen, die noch nie im Leben über ihren Wohnsitz hinausgekommen waren, konnten nunmehr - allerdings für gar nicht so wenig Geld, nach zeitgenössischen Maßstäben gerechnet - eine "Reise in die Welt" unternehmen, die sie bis zu diesem Zeitpunkt nur vom Hörensagen kannten. Außerdem verbilligten Schienen und Lokomotiven in erster Linie den Transport von Waren derart, daß der Preis für manche lebenswichtigen Artikel binnen weniger Jahre beträchtlich reduziert wurde. Wo immer die Schienen der Eisenbahn hinführten - sie erschlossen eine ganze Gegend dem Handel und Wandel der nunmehr angebrochenen modernen Zeit. Bald hatten auch mehr oder weniger seriöse Geschäftemacher herausgefunden, wie einträglich Eisenbahnen waren.
Der Gedanke, rasch und mühelos zu Geld zu kommen, befiel auch Menschen, die sich bis zu diesem Zeitpunkt kaum in finanzielle Spekulationen eingelassen hatten. Nun aber brach das Eisenbahnfieber aus: Die Finanzierung neuer Linien erfolgte durch den Verkauf von Aktien und zahlreiche Spekulanten verdienten ein Vermögen auf Kosten kleiner Sparer, die infolge bombastischer Versprechungen ihr gesamtes, oftmals schwer erworbenes Geld in diesen Aktien investierten. In Wirklichkeit wurde nur ein Teil der versprochenen Bahnlinien gebaut.
Unter der Leitung von Robert Stephenson - sein Vater George widmete sich mehr und mehr dem Bau von Strecken - entwickelte sich die Lokomotivfabrik in Newcastle zu einem Unternehmen, das nicht nur die Bahnen Englands, sondern auch die von Europa und den USA belieferte.
Da die Maschinen von Stephenson allgemein in der Spurweite von 4 Fuß 8 ½ Zoll (gleich 1435 Millimeter) ausgeführt waren, wurde diese Spur, wenn auch nach mannigfachen Kämpfen, später allgemein als "Normalspur" festgelegt. Alle darüber liegenden Spurweiten wurden als "Breitspur", die darunterliegenden als "Schmalspur" bezeichnet.
Im Jahre 1830 entwickelte Stephenson seine 1 A-Lokomotive vom Typ "Planet", bei der die beiden Zylinder erstmals innerhalb des Fahrgestell-Rahmens unter der Rauchkammer angebracht waren. Die Weiterentwicklung, der besseren Fahreigenschaften halber, war die 1 A 1-Type "Patentee"; sie war auch bei der Eröffnung zahlreicher europäischer Bahnen die Lokomotive, die den ersten Zug über die Schienen führte.
Etwas andere Wege ging der Konstrukteur Edward Bury, der vor allem B-gekuppelte Lokomotiven baute und mit ihnen erfolgreich war. Aber die Anforderungen an das "eiserne Pferd" wurden immer höher, je länger und damit schwerer die Züge wurden. Alle Konstrukteure wetteiferten darin, schnellere, stärkere und dabei wirtschaftlichere Maschinen auf die Schienen zu stellen.
Der englische Dampflokomotivbau war zwar etwas gehandikapt durch den vergleichsweise geringen Lichtraum der englischen Bahnen, aber dennoch oder vielleicht gerade deswegen waren die englischen Lokomotivbauer bemüht, zugleich formschöne und funktionelle Typen zu entwickeln. Die englische Lokomotivindustrie war in vielen Dingen richtungweisend und ihre Produkte sind noch heute jedem Lokomotivfreund bekannt.
Im Lauf der Jahrzehnte bildeten sich elf größere private Eisenbahngesellschaften heraus, die, auf begrenzte Regionen aufgeteilt, den Betrieb führten und im Lauf der Zeit fast alle kleinen Bahnen aufkauften.
Diese elf Gesellschaften waren:
- London & North Western
- Great Western
- North Eastern
- Midland
- Great Eastern
- London & South Western
- Great Northern
- Lancashire & Yorkshire
- Manchester, Sheffield & Lincolnshire
- London, Brighton & South Coast
- South Eastern.
Diese elf Gesellschaften übernahmen gleich 70 kleine Bahnlinien bei ihrer Gründung, und bis Ende 1870 stieg die Zahl der vereinnahmten kleinen Gesellschaften auf 262. Nicht alle dieser Gesellschaften ließen ihre Lokomotiven bei den renommierten Lokfabriken bauen, manche, so die Great Western, hatten eigene Chefkonstrukteure und die Lokomotiven entstanden auf den Reißbrettern und in den Hallen der bahneigenen Werkstätten in Swindon, um nur ein Beispiel zu nennen.
Aufgrund der gesteigerten Transportaufgaben während des Ersten Weltkrieges wurden die Bahnen von der Regierung übernommen; 1921 mußten sich nach einem Regierungserlaß 27 größere und 93 kleinere Bahnlinien zu vier überregionalen Gesellschaften zusammenschließen.
Diese vier aus der "amalgamation" hervorgegangenen Gesellschaften waren:
- "Great Western" (GWR)
- "London, Midland & Scottish" (LMS)
- "London & North Eastern" (LNER)
- "Southern" (SR)
wobei das "R" in drei der Abkürzungen jeweils für "Railway" stand.
Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges übernahm der Staat abermals die Eisenbahnen und seit der endgültigen Verstaatlichung zum 1. Januar 1948 gibt es - mit wenigen Ausnahmen - nur mehr die "BR", die British Rail, wie sie nunmehr abgekürzt genannt wird.
Die britischen Dampflokomotiven zeichneten sich sowohl durch äußere Formschönheit als auch durch Effizienz aus.
Die Konstrukteure - Dean, Churchward, Collett, Ivatt, Stirling, Maunsell, Webb, Stroudley, Kirtley, Worsdell, Fowler, Gresley und Bulleid, um nur einige zu nennen - waren stets bestrebt, nicht nur wirtschaftliche, sondern auch ästhetisch befriedigende Lokomotiven zu bauen.
Das Lokpersonal wiederum hatte den Ehrgeiz, daß seine Maschinen bei jedem Einsatz wie neu aussahen; und so boten besonders die Expreßzüge vor dem Ersten Weltkrieg ein farbenprächtiges Bild, denn jede Gesellschaft hatte ihre eigenen Farben sowohl für Lokomotiven als auch Waggons. In England wurde es in Deutschland üblich, daß nicht nur die Lokomotiven, sondern auch die Züge Namen führten: "Flying Scotsman" (er fuhr bereits zur Dampflokzeit täglich Punkt zehn Uhr vom Londoner Bahnhof King's Cross ab und erreichte sechs Stunden später Edinburgh), "Cheltenham Flyer", "lrish Mall", "Golden Arrow", "Night Ferry", und wie sie alle hießen - sie waren jedem Eisenbahnfreund ein Begriff.
Eine englische Lokomotive ist es auch, die den offiziellen Geschwindigkeitsrekord für Dampflokomotiven hält. Die von Gresley gebaute "Mallard" der LNER erreichte im Juli 1938 die Geschwindigkeit von 126 Meilen pro Stunde, das sind knappe 203 km/h. Glücklicherweise blieb die Lokomotive erhalten, sie hat heute einen Ehrenplatz im Britischen Eisenbahnmuseum in York, einem der größten der Welt; sie ist auch noch fahrbereit und wird gelegentlich zu Sonderfahrten eingesetzt. Dasselbe gilt für die letzte in England für die British Rail gebaute Lokomotive, sie verließ im März 1960 die Hallen der Fabrik in Swindon und trug den passenden Namen "Evening Star".