Graf Széchenyi und der Bahnbau
Der animierende Impulsgeber der Ödenburg-Wiener Neustädter Eisenbahn war unbestritten Graf István Széchenyi (1791 -1860), Großgrundbesitzer in Nagycenk, 9 km östlich von Ödenburg. Der einst schmucke Husarenoffizier, der auch in der Völkerschlacht von Leipzig seinen Mann stellte, kam in den Ungarischen Landtag, der damals in Preßburg residierte. Als weitblickender, für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt aufgeschlossener Mann, stellte er sich an die Spitze der sogenannten Reformbewegung in Ungarn. Er wollte mit der Förderung von Industriegründungen und mit dem Ausbau effizienter Verkehrswege eine modernere Umwelt schaffen. Die mit einer Donauregulierung verbundene Donaudampfschiffahrt, Brückenbau und Eisenbahnbau standen bei seinen Vorstellungen und Projekten an erster Stelle. An vielen Projekten beteiligte er sich mit seinem Privatvermögen und ging damit auch vielerorts ein finanzielles Risiko ein. Er blieb stets kaisertreu und lehnte revolutionäre Lösungen ab.
Im Laufe seiner mehrmaligen Reisen nach England (1815-1825) sah er dort die frühen Eisenbahnen und auch andere am Kontinent noch unbekannte technische Errungenschaften: er ließ sich aus England eine Gasheizung holen und im Schloß Nagycenk installieren. Er bot 1825 ein Jahreseinkommen zur Gründung der Ungarischen Akademie der Wissenschaften an. Ein Tagebuch, welches er regelmäßig, im sogenannten Telegrammstil, mit Abkürzungen und mit Anmerkungen seiner oft emotionell gefärbten Anschauungen wahlweise in deutscher, ungarischer und französischer Sprache führte, gibt uns viel Aufschluß über alle Ereignisse jener Zeit, so auch zum Bau der Ödenburg Wiener Neustädter Eisenbahn.
Kaum, daß dem Freiherrn Georg von Sina am 2. Jänner 1838 eine vorläufige Bewilligung "für Eisenbahnen von Wien über Schwechat, Bruck und Pottendorf nach Raab und Preßburg, dann von Wien nach Wiener-Neustadt, nach Oedenburgs und Raab nebst mehreren Seitenbahnen" erteilt wurde, schickt Széchenyi bereits am 12. Jänner 1838 einen Brief an Sina, in dem es heißt: "Ich höre oder lese vielmehr in den Zeitungen, daß Sie Ihr Eisenbahn Privilegium für die Strecke von Wien über Baden?, Neustadt (?), Oedenburg (??) nach Raab bereits erhalten haben. Ich hoffe, daß Sie auf mich doch nicht ganz vergessen, und mir einige Stück Actien um den Emissions-Preis zukommen lassen werden." Der Brief deutet auf ein vertrauliches Verhältnis zu Sina hin, welches damals noch ungetrübt war und sich hauptsächlich auf den sich anbahnenden Kontakt zum Bau und zur Finanzierung der Kettenbrücke über die Donau zwischen Ofen und Pest bezog. Das nach Ödenburg zwei Fragezeichen stehen, deutet auf die besondere Ungewißheit dieses Eisenbahnbauprojektes hin. Aber, daß Széchenyi die finanzielle Anteilnahme sozusagen erbitten mußte, weist auf ein zu erwartendes großes Interesse, welches sich bei der Zeichnung von Aktien der meisten Eisenbahnen damals ankündigte. Und dies bevorzugt in den Reihen des Wiener Publikums, keineswegs unter den ungarischen Grundbesitzern, die in ihrem Konservativismus den Eisenbahnen gegenüber vorläufig noch mißtrauisch blieben. Auch Széchenyi war ihnen in dieser Tätigkeit eher suspekt. Eine am 9. November 1838 datierte Polizeimeldung berichtet: "Man meint bereits den Gr. István Széchenyi, den Sensal des Barons Sina, der nicht das Wohl des Landes, sondern den Gewinn des Sina und den eigenen vor Augen hat."
Széchenyi war es auch, der 1842 die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit lenkte, die Ödenburg-Wiener Neustädter Bahnverbindung weiterzuführen und als einen Teil der Wien-Triester-Verbindung zu betrachten. Am 6. Februar 1842 ist in seinem Tagebuch folgendes zu lesen: "...im Auftrag des Oedenburger Comitats bei E/rz/Herzog Palatin... um ihn auf die Triester- Wiener Bahn über Ungarn aufmerksam zu machen." Dieser Gedanke blieb aktuell. Noch vor Eröffnung unserer Bahn wurde 1846 die Trasse zur Weiterführung bis nach Kanizsa vermessen.1842 schien die Möglichkeit einer Bahnüberquerung des Semmeringpasses technisch noch sehr zweifelhaft, und obwohl man zum Erreichen der Adria bei Fiume auch ein Gebirge, nämlich den Karst zu überwinden hatte, lag einerseits - im Gegensatz zum Semmering - dieser noch fern, und man konnte bis zum Erreichen des Karstes mit dem Bauvorgang gewisse technische Erfahrungen erwarten. Außerdem mußte man bei der Semmering-Route in Richtung Triest außer dem Semmering auch noch den Karst, also zwei Gebirge überwinden. Interessant ist aber, daß Széchenyi 1842 über Ödenburg und Westungarn eine Verbindung nach Triest und nicht nach Fiume erwog! Dies dürfte nicht auf kleinere bautechnische Schwierigkeiten dieses Verkehrsweges hindeuten, vielmehr war und blieb in den Wiener Regierungskreisen Triest das vorrangige Ziel. Triest war der besser ausgebaute und mehr frequentierte Adriahafen, außerdem lag er auf österreichischem Gebiet.
Nachdem die Anfangsergebnisse der Bahnverbindung Wien-Gloggnitz recht zufriedenstellend waren, kam auch der Ausbau der schon früher erwogenen Flügelbahnen alsbald wieder ins Gespräch. Am 1. November 1843 verzeichnete Széchenyi in seinem Tagebuch: "Schönerer bei mir (wegen) Oedenburger Eisenbahn". Schon am nächsten Tag, am 2. November 1843: "Besucht mich Sina, ist ziemlich für Oedenburger Eisenbahn". Und kaum eine Woche später brachte Széchenyi die Angelegenheit vor der Konkurrenz ins Gespräch: "Bei Rothschild. Rede mit Goldschmidt über... Oedenburg Neustädt(ter) Eisenbahn". Auf Antrag wurde Sina am 3. Dezember 1842 von der Verbindlichkeit seiner früher konzessionierten Eisenbahnbauprojekte in Richtung Preßburg und Raab von der Regierung enthoben, die Konzessionen für die drei Flügelbahnen der Gloggnitzer Bahn blieben jedoch:
1. Jene - ursprünglich als Hauptbahn gedachte Strecke von Wien nach Bruck a. d. Leitha;
2. Von der Gloggnitzer Strecke nach Laxenburg und
3. Von Wiener Neustadt nach Katzelsdorf. Diese letztere nur 3,6 km lange Flügelbahn sollte bei Katzelsdorf über die Leitha den Anschluß an die selbständige, aber zur selben Finanzgruppe gehörenden Ödenburger Bahn herstellen. Für sie war seitens der Ungarischen Statthalterei eine neue Baugenehmigung nötig, um die sich jetzt Széchenyi bemüht.
Dazu hatte er sich vor allem des Wohlwollens des allmächtigen Kanzlers versichert. Tagebucheintragung vom 13. November 1843: "Bei Metternich. Ich esse da. Sitze neben der Talleyrand. Metternich: Setzen Sie mich auf die Liste der Subscribenten - der OedenburgNeustädter Bahn - a Discretion ". Und nur zwei Tage später erfahren wir aus seinem Tagebuch auch die Summe, mit welcher Metternich sich beteiligen will:
10m(ille) C(onventions) M(ünzen). Wieder einmal ein Fragezeichen dahinter: vom Herausgeber der Tagebücher wird fast 100 Jahre später dieses als Erstaunen über die nicht allzu große Höhe der Summe angedeutet. Wahrscheinlich dürfte sich das Projekt, wenn auch nicht als ein lukratives, so dennoch als ein solides Projekt herausgestellt haben. Was vielleicht der wichtigen südlichen Richtung - Adria - zuzuschreiben ist.
Am 1. Juni 1844 war Széchenyi bei "Mérey und Lechner wegen Sopron Újhelyi Vasút" Sándor Mérey war Rat bei der Statthalterei, Josef Lechner Direktor des Staatsbauamtes. Im Juli 1844 schrieb Széchenyi an Ludwig Procopius, Agent bei der Statthalterei, einen verzweifelten Brief, in welchem er sein Unverständnis zum Ausdruck brachte, weil sich die erwartete Genehmigung der Bahnstatuten verspäte. Ob Mérey nicht etwas Böses im Schilde führe? Er hätte doch die allerhöchste Genehmigung auf dem Gesuch bereits gesehen. Széchenyi hat in dieser Angelegenheit bereits am 25. Juni 1844 "Tschurl nach Pesth mit Oedenb(urg) Eingabe" geschickt. Schließlich kam die "Resolution" erst am 4. November 1844 an. Statt der beantragten 80 Jahre für das Privilegium enthielt sie nur 50 Jahre. Széchenyi bemerkte am selben Tag in seinem Tagebuch, er würde die Klärung dieser Differenz auf sich nehmen. Diese Resolution ließ aber noch nicht die Konstituierung der Eisenbahngesellschaft zu.
Der Durchbruch zu den endgültigen Genehmigungen und dem Bahnbau erfolgte Anfang 1845. Vom 19. Februar datiert ein persönliches Schreiben von Georg Apponyi, Kanzler der königlichen Tafel, an Széchenyi: "Mein verehrter Freund! Die Resolution über die Eisenbahn ist gekommen, morgen verhandeln wir sie im Rath und senden sie praeferendissime nach Ofen. Vivat!".Nur drei Tage später schrieb der Palatin Erzherzog Josef ebenfalls in dieser Angelegenheit: "Lieber Graf Széchenyi! Da ich weiß, wie sehr Ihnen der Gegenstand der Oedenburger Bahn am Herz liegt, so benachrichtige ich Sie, daß mit der heutigen Post die von S(einer) M(ajestät) genehmigten Statuten der diese Bahn in Antrag bringenden Gesellschaft herabgelangt und der Statthalterey zugleich der Auftrag gegeben wurde, im Sinne des Gesetzes mit der Gedachten Gesellschaft den weiteren Vertrag abzuschließen. Ich werde dafür sorgen, daß die nöthigen Anfertigungen an die Behörden allsogleich erfolgen. Ofen am 22-ten Februar. Joseph". Szechenyi würdigte mit einer kurzen Eintragung in sein Tagebuch diese persönliche Nachricht des Palatins noch am selben 22. Februar 1845: "E(rz)H(erzog) schreibt mir eigenhändig... wegen der Conclusion der Oedenburger Bahn und daß alles bereits eingakommen sei. - Doch recht aimable". Und innerhalb von acht Tagen fuhr Széchenyi mit seinem Sekretär Tschurl sogleich nach Ofen. Eintragung in das Tagebuch vom 1. März 1845: "Mit Tschurl nach Ofen. Josy Ürményi läßt uns warten, ich muß ihm Actien überlassen. Er spricht dann gegen mich mit dem Hofrath. (Ambrus, der voller bösen Willen ist und ganz nach Central Bahn riecht!) Wir schließen den Contract mit der Statthalterey, Oedenburg-Neustädter Eisenbahn. Jetzt muß aber die sich constituierende Gesellschaft beim Gerichtshof eingetragen werden. Der zuständige Ignaz Noszlopy, Gerichtshofpräsident in Ödenburg erhebt Schwierigkeiten." Eintragung in das Tagebuch am 7. März 1845: "L(uka) theilt mir mit, daß Noszlopy unsere Eisenbahn nicht vormerken lassen will. Hol ihn der Teufel... " Zur Unterschrift des Kontraktes kam es dann schließlich am 27. März in Ofen beim Statthalterei - Rat. Széchenyi und Tschurl unterschrieben. Damit ist die anderthalb Jahre dauernde Anstrengung erfolgreich abgeschlossen worden. Széchenyi eilte nach Ödenburg zurück. Dort fand am 30. April 1845 die konstituierende Versammlung der Oedenburg-Wiener Neustädter Eisenbahn statt. Er wurde zum Präsidenten gewählt. Damit begann für ihn ein neuer Abschnitt bei diesem Eisenbahnbau, nämlich jener zum Überbrücken der finanziellen Schwierigkeiten. Wie so oft, wurden auch hier die Baukosten fast um die Hälfte des Voranschlages überschritten: Die Bahn sollte 1,5 Millionen Gulden kosten, tatsächlich betrugen aber die Baukosten über 2 Millionen.
Öfters besichtigte Széchenyi die Bauarbeiten. Anläßlich einer dieser Fahrten zeugt sein Tagebuch über ein Gefallen der Bauarbeiten im allgemeinen, jedoch über den furchterregenden Eindruck, den der Anblick des in Bau befindlichen Mattersdorfer Viaduktes ausübte: "Fahre mit Lunkanyi nach Oedenburg... Besehen Bahnhof. Prächtig!" (26. Februar 1847) . Nur ein Tag später: "27-ten besehe ich die Bahn bis Mattersdorf. Miserable Viaducte... Einschnitte - Riesenartig ... und mit stupidem Leichtsinn ausgeführt. Es ist ein todtes Kind! Colossal römisches Werk!" Schönerer mußte ihn beruhigen, daß alles in Ordnung wäre.
Es ist zu bemerken, daß Széchenyi schon eine gewisse Praxis hinsichtlich von Eisenbahnfahrten hatte, nahm er doch an der Eröffnung der Eisenbahn von Olmütz nach Prag im August 1845 teil. Die etwa 40 km/h betragende Geschwindigkeit brachte ihn damals zu der Äußerung: "Ich glaube nicht, daß man mit einem langen Train je über 20 (15) engl(ische) Meilen in einer Stunde fahren könne." Man sieht, daß sich auch große Staatsmänner manchmal irren, besonders wenn sie technische Prophezeiungen vornehmen.
Széchenyi konnte den Eröffnungsfeierlichkeiten nicht beiwohnen, er fuhr am 5. Oktober 1847 zum ersten Mal mit der Bahn. Und im April 1860 wurde seine sterbliche Hülle aus Wien über "seine" Bahn bis Ödenburg gebracht, um anschließend in der Familiengruft von Nagycenk die letzte Ruhestätte zu finden.
