Der Viadukt zu Mattersdorf

"Die Eisenbahnbrücke bei Mattersburg". (Kolorierter Stahlstich, gezeichnet von Ludwig Rohbock)
Der Mattersburger Viadukt auf einer Ansichtskarte deutet auf ein Landschaftsbild, welches wegen der Bebauung der Umgebung heute kaum mehr zu erfassen ist.

Der Mattersdorfer Viadukt war für die Zeitgenossen etwas völlig Neues. Dies geht schon aus den ängstlichen Bemerkungen des Grafen Széchenyi hervor. Auch Meinungen anläßlich des Unwetters am 28. Oktober 1847 bezweifelten die Standhaftigkeit des Viaduktes. Tatsächlich hat aber dieser Bau in den vergangenen anderthalb Jahrhunderten allen Wetterunbilden standgehalten.

"Es ist nicht unmöglich, jedenfalls aber unräthlich, ungewöhnlich tiefe Täler mit Erddämmen zu überschreiten. Der Pfeilerbau, mit Rundbögen verbunden, ist für die Brücken überhaupt die empfehlenswerteste Bauform". Dieses Zitat stammt vom deutschen Eisenbahningenieur und Professor Andreas Johann Schubert aus dem Jahre 1846. In diesem Jahr nahm man sein größtes Brückenbauwerk, die Göltzschtalbrücke, in Angriff, die mit ihrer Höhe von 78 Meter und ihrer Länge von 578 Meter insgesamt die beachtliche Menge von 135.600 m³ Mauerwerk benötigte. Sie ist die größte Steinbrücke der Welt. Schönerer war offensichtlich derselben Meinung als er zum Bau des Mattersdorfer Viaduktes schritt.

Als Muster für die ersten Eisenbahnviadukte am Kontinent dürfte der von George Stephenson für die Manchester und Liverpool Eisenbahn 1830 errichtete Viadukt über das Sankey-Tal gedient haben. Dieser Viadukt hatte neun gewölbte Bögen zu je 15 m Spannweite aus Ziegeln. Sie standen auf steinernen, massiven Pfeilern, welche auf Holzpfählen begründet waren. Nicht nur die technischen Merkmale, auch seine ästhetisch ansprechenden Proportionen waren ausschlaggebend für ähnliche Bauten in den nachfolgenden Jahrzehnten.

Unter der Leitung des später bei der Semmeringbahn berühmt gewordenen Ingenieurs Karl Ghega baute die Nordbahn vor dem Bahnhof Brünn bereits 1838 den 637 m langen in einer Gleiskrümmung führenden Viadukt, welcher die Bogenbrücken über die Schwarz und die Wiener Straße ergänzte und ein recht imposantes Bauwerk ist. Die Ausfahrt aus dem Hiberner Bahnhof (Nordbahnhof) beim Verlassen von Prag erforderte im Stadtgebiet einen Viadukt von 1110 m Länge. Krönung des Gewölbebaues für Eisenbahnen war aber die Lagunenbrücke der Lombardisch-Venezianischen Ferdinands-Eisenbahngesellschaft bei Venedig. Dieses 3,6 km lange Bauwerk, 1841 bis 1845 errichtet, war eine besondere technische Errungenschaft, bestand aus 222 gemauerten Steinbögen, welche je 10 m weit gewölbt waren, und den Bahnkörper 3,6 m über den Wasserspiegel hielten.

Der Geultal Viadukt bei Aachen, an der Strecke von Antwerpen nach Köln, wurde 1843 in Betrieb genommen. Er galt als das großartigste und kühnste Bauwerk der Strecke. Mit 17 Bögen verschiedener Bogenweite bis zu 10 m und einer Höhe bis zu 14 m wurde das Tal überwunden. In der Lausitz baute die Niederschlesisch Märkische Eisenbahn 1846 bei Bunzlau an der Strecke von Breslau nach Liegnitz einen Viadukt aus Sandstein mit 35 Bögen zu je 10 bzw. 12,5 Meter Spannweite, er überbrückte das Tal der Bober. Fast zur gleichen Zeit wurde von der Sächsisch-Schlesischen Eisenbahn für ihre von Dresden nach Bautzen führende Strecke der Spree-Viadukt dem Verkehr übergeben. Er bestand aus 5 Mittelöffnungen von je 17,20 m und beiderseitigen weiteren fünf Bögen mit 8,95 m Spannweite. Dieses Prachtwerk des Maurermeisters Seidler wurde auch vom Sächsischen König Friedrich August II. besichtigt und anerkannt. Gleichzeitig etwa mit unserem Mattersdorfer Viadukt überbrückte dieselbe Sächsische Bahn auch die dort 472 m breite Neisse mittels 31 Bögen verschiedentlicher Weite bis zu je 22,2 m mit der beachtlichen Höhe von 40 m über den Fluß. Nur 11 Tage nach der Eröffnung unseres Mattersburger Viaduktes, wurde am 1. September 1947 der Verkehr über die Neisse, heute an der deutsch-polnischen Grenze gelegen, aufgenommen. Auch war damals der große Fulda-Viadukt der Kurfürst-Friedrich-Wilhelms-Eisenbahn (später Hessische Nordbahn) zwischen Guxhagen und Guntershausen im Bau.314 m lang, überbrückte er mit 13 Bögen das Flußbett und das Tal, seine Gestalt und seine Größe hatten Verwandtschaft mit dem Mattersburger Viadukt. Wegen vorgekommener Streitigkeiten im Laufe der Planung wurde 1843 als Sachverständiger George Stephenson aus England an Ort und Stelle gebeten. Dies ist für uns von Bedeutung, unterstreicht doch die Inanspruchnahme dieses Ingenieurs von Weltruf die Bedeutung des Fulda-Viaduktes. Deswegen sind auch seine, den Mattersburger Verhältnissen ähnlichen technischen Merkmale zu beachten: die Spannweite der Bögen betrug 16,5 m, die Wölbung war am Kämpfer 1,45 m, und im Scheitel 1,05 m stark.

Die Gesamthöhe vom Fundament bis zur Oberkante der Brüstung betrug 35 m. Die Zwischenpfeiler fielen mit 3,30 m Breite am Fluß und 18 m Höhe schmal aus. Kurz nach der Entfernung des Gerüstes 1848 zeigten sich beachtliche Schäden: Sprünge, Abplatzungen und Ausbauchungen des Mauerwerks waren an einem der Pfeiler ersichtlich. Die Schäden waren für die Bauingenieure umso beängstigender, als 1846 in Frankreich auf der Strecke von Rouen nach Le Havre bei Barentin ein Teil des 480 m langen und 32 m hohen Viaduktes einstürzte! Immerhin konnten die Schäden beim Fulda-Viadukt schließlich beseitigt werden und der Guntershausen Viadukt - er wurde erst 1849 dem Verkehr übergeben - hielt bis zu seiner 1945 erfolgten Sprengung. Alle diese Beispiele wurden hier angeführt, um zu zeigen, daß um 1846 nicht jeder Viaduktbau dieser Größenordnung technisch so problemlos verlief wie jener von Mattersburg.

Betrachten wir nun unseren in der kurzen Zeit von knapp einem Jahr errichteten und bis zum heutigen Tag bestehenden Viadukt.

Der 250 m lange, hohe Bau führt über eine damals zur Esterházyschen Domäne gehörende Wiese mit zwanzig Bögen auf leicht nach oben sich verschmälernden Pfeilern aus Ziegelwerk mit Verstärkungen aus Steinmauerwerk ausgeführt, in leichtem Gefälle nach Osten, also Richtung Mattersburger Bahnhof. Er überbrückt von West nach 0st mit dem dritten Bogen einen Fußweg und mit dem 18. Bogen die Wulka. (Der Mühlbach ist nach später erfolgter Regulierung heute mit der Wulka zusammengelegt). Höchst interessant ist, daß der 3. und 4. sowie der 17. und 18. Bogen sich der Straße und den beiden Bächen anpassen, welche sich gegenüber der Viaduktlängsachse in schräger Lage befinden, und deshalb mit schrägen Tonnengewölben ausgeführt sind. Von den neunzehn gemauerten Viaduktpfeilern ist demnach der 2., der 4., der 16. und der 18. Pfeiler im Horizontalschnitt trapezförmig, der 3. und 17. romboid gestaltet, hingegen weisen die übrigen 11 Pfeiler längliche Viereckquerschnitte auf. Die Bögen sind auch in den schrägen Tonnen von gleicher Weite. Sie beträgt allgemein je 11,06 m. Die romboiden Pfeiler haben die selbe Breite ( in Kämpferhöhe 2,84 m) wie die rechteckigen, was zur Folge hat, daß die trapezförmigen Pfeiler sich jeweils auf einer Seite mit etwas breiterer Front abzeichnen. Im Gesamtbild wirkt das nicht störend.

Die uns überlieferten alten Vermessungspläne stammen von Anton Höfer, dem Ingenieur-Assistenten. Obwohl das der Witterung ausgesetzte Mauerwerk im Laufe der anderthalb Jahrhunderte gewisse Schäden erlitt und deshalb öfters ausgebessert und ergänzt werden mußte, hat es seinen ursprünglichen Charakter weitgehend bewahrt.

Baudenkmäler haben einen historischen und einen ästhetischen Wert. Rarität gewisser Bauarten ist ein zusätzlicher Faktor. Es ist falsch, den Wert eines Bauwerkes allein dem Alter nach zu beurteilen, und deshalb einen römischen oder mittelalterlichen Bau einem aus dem 19. Jahrhundert stammenden a priori zu bevorzugen. Der Mattersburger Viadukt ist wegen seiner hervorragenden ästhetischen Wirkung in der umgebenden Landschaft und seiner im europäischen Eisenbahnbau eingenommenen vorrangigen Stellung wegen, erhöht durch den Raritätswert und seiner zeitlichen Priorität gegenüber den meisten ähnlichen, bekannten Viadukten, ein erstrangiges Baudenkmal, dessen Wert in der Umgebung kaum von einem anderen - auch keinem älteren Baudenkmal - übertroffen werden kann. Seine fortwährende Verwendung in der ursprünglichen Funktion unterstreicht noch seine Bedeutung. Von Bedeutung sind auch der mit sieben Bögen errichtete Viadukt bei der Station Wiesen-Sigleß und der niedrige dreibögige nach Marz-Rohrbach; auch sie bestehen bis heute.